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Daniel Gutscher

«bête noire» der Aargauer Kunstmaler?

«Es war für mich vielleicht ein Glück, dass ich von Anfang an keine Käufer fand, es spornte mich jedesmal an, weiter zu denken, so bin ich schliesslich zu meiner eigenen Malerei gekommen» kritzelt Urech-Seon selber in sein Skizzenbuch…

Zum ersten Mal seit der Ausstellung, die 1960 zum Gedächtnis seines Todes in Seon gezeigt wurde, tritt uns Urech-Seon wieder in Werken entgegen. Wenige sind es, die sich seiner noch erinnern; fast keine, die seine Schlüsselposition als erster abstrakt malender Künstler im Aargau erkannt haben. Über seine Spuren ist längst das Gras der Vergessenheit gewachsen. Doch haben wir zu Recht das Jäten unterlassen?
Urech-Seon ist 1876 geboren. Damit ist er Altersgenosse Augusto Giacomettis (1877–1947), Paul Klees (1879–1940) und Hermann Hallers (1880–1950) oder – um einige Ausländer zu nennen, welchen Urech nahestand – Pablo Picassos (1881–1973), Fernand Légers (1881–1955) und Georges Braques (1882–1963). Urechs Malerei lief jedoch nicht direkt auf die seiner Generationsgenossen hin. Am deutlichsten spricht er selbst über seinen Werdegang: «Von Klein auf Künstlerziel, in der Schule kein beförderndes Zeichnen, keine Wegweiser und kein Geld, lernte ich den Malerberuf, reiste in Deutschland, Oesterreich, gründete ein Malergeschäft im Heimatort, kam schliesslich zu Geld und mein Jugendtraum erfüllt sich 1913.» – Urech-Seon verkaufte kurzerhand sein Geschäft. Das kam für Frau und Tochter völlig überraschend. Urech liess sich nicht zurückhalten. Wir sind – auch in Hinblick auf sein späteres «Outsidertum» – geneigt, von einem Sendungsbewusstsein zu reden. Während der drei folgenden Winter weilt er in München an der Akademie und bildet sich bei Professor Hermann Groeber (1865–1935) im Malen und Zeichnen aus. München führte zu engem Kontakt mit Werken später Deutsch-Impressionisten, der durch Reisen in Deutschland und Oesterreich noch verstärkt wurde.

Landschaftsmalerei im Banne Hodlers
und der Deutschimpressionisten

Studien in der Münchner Pinakothek brachten ihm Arnold Böcklin (1827–1901), Anselm Feuerbach (1829–1880) und Hans von Marées (1837–1887) nahe, deren antikenbegeisterte Gedankenmalerei er kopierte. Eine erste Festigung seiner Malerei bringt 1918 die Niederlassung, insbesondere das bessere Atelier am Friedhofweg in Seon. Damit beginnt die grosse Periode naturalistischen Schaffens, das 1920 – im Geburtsjahr seiner zweiten Tochter Emma – die Aufnahme in die Aargauer Sektion der Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten GSMBA zur Folge hat. Urech steht zunächst ganz im Banne seines Landsmannes Ferdinand Hodler (1853–1918); dann folgen, etwas expressiver, aber in verhaltenen Farben, eigenere Werke. Das Echo der Kritik war nicht ablehnend, erkannte man doch manchen Flecken liebgewonnener Heimat. Dennoch sprachen die Landschaften seiner Kollegen mehr an, weil Urech nicht den raffinierten Sonnenuntergang oder die bedrohliche Stimmung vor einem Gewitter suchte. Ein Motiv in der Natur musste ihm wie er schreibt «in Linien und Flächenaufteilung etwas sagen, erst dann kamen die Farben, aber sie kamen auch, und dazu Rhythmen, Bewegung. Was die meisten Maler in der Natur sehen, liess ich liegen und suchte neue Schönheiten und fand sie auch…»

Umbruch – Schritte zur Abstraktion

Vor dem Hintergrund dieses mageren Erfolgs ist die grosse Krise und der totale Umschwung zur abstrakten Malerei zu sehen, der sich in den Jahren um 1930 vollzieht. Die Krise setzte sich aus zwei Faktoren zusammen: einerseits war Urech mit der naturalistischen Landschaft am Ende (Ansätze zum Abstrakten, zu einer Art Kubismus, lassen sich schon 1925 fassen), anderseits hinderte ihn die zeit- und ausbildungsbedingte Deutschlandbegeisterung an einer fruchtbaren Läuterung in der bereits angeschlagenen Richtung. So kommt es erst um 1932 zum Durchbruch. Dabei leisten Ausstellungen wie Picasso 1932 in Zürich, Braque im folgenden Jahr in Basel und schliesslich Le Corbusier 1938 in Zürich beachtliche Hilfe, welche ihm aus dem Kollegenkreis nicht zukam. Aus diesem erhielt er Briefe, die alles andere als beförderlich waren. So der Aargauer Malerkollege Paul Eichenberger (1891–1984): Ich kann «nicht recht verstehen, warum Sie immer auf diesem ort- und rassenfremden Pegasus herumreiten». Oder es hiess: «Wenn Sie unter Kollegen leben würden, die mit ehrlicher Kritik nicht zurückhalten, würden sie…gewiss…bedeutendere…und zeitgemässere Werke schaffen.» – Gerade das Wort «zeitgemäss» musste einen Mann wie Urech-Seon, der glaubte, wahre Kunst stehe über den Zeiten, abstossen. – Die positiven Stimmen blieben in der Minderzahl. Der Kunsthistoriker und ETH-Professor Linus Birchler (1893–1967) bezeichnete Urech 1933 anlässlich einer Ausstellung, in welcher Papierrolle, 1933 gezeigt wurde, als «bête noire» der Aargauer Künstler und fühlte sich durch Inkarnattöne sowie Summierung der schwerlich erratbaren Themen «an gewisse Phasen von Picasso» erinnert und lobte die «farbige und dekorative Kultur».

Festigung – Kubismus und Surrealismus

Der Durchbruch zeigt sich auch im Wandel zu grösseren Formaten. Muten die Bilder der Dreissigerjahre oft noch wie ins Graphisch-Zweidimensionale umgeformte Werke aus der Umgebung des «Blauen Reiters» an (z.B.: Waldeszauber, 1939), so kommt neben der kubistischen um 1940 eine surrealistische Strömung auf. Diese nähert sich in Werken wie Tanzende Mänade, 1942 oder Natur und Zivilisation, 1942 der Phase Picassos, der zwischen 1931 und 1937 zu Metamorphosen neigt. Während wir bisher noch Gegenstandsabstraktionen hatten, finden wir jetzt fast ausschliesslich konkretisierte Gedanken wie Freude und Leid, 1945 oder Phantasiegebilde. Wo Urech-Seon keine Titel wie Die Begrüssung, 1956 oder «Maurisch» gibt, nennt er seine Werke schlicht «Composition» und verbirgt damit seinen dahinterstehenden Gedankengang vollkommen. Wir können es der seinerzeitigen Kritikerschaft nicht verargen, dass sie hier nicht mehr mitkam. Sie konnte Urechs Schöpfungen an nichts Bekanntem mehr messen.

Konkrete Kunst

Diese letzte Richtung nimmt im Oeuvre Urechs Mitte der Vierzigerjahre überhand und hält sich bis zu seinem Tode. Urechs Malerei bewegt sich ganz in den Regionen der «Allianz», in die er aber erst 1947 aufgenommen wird. Die Mitglieder der «Allianz», die dem siebzigjährigen Avantgardisten künstlerisch nahestehen: Leo Leuppi (1893–1972), Diogo Graf (1896–1966), Richard Paul Lohse (1902–1988), Hansegger (1908–1989) und Max Bill (1908–1994) sind durchwegs fast eine Generation jünger. Der Durchbruch dieser Periode ist zugleich eine Befreiung von gewissen bitteren Zügen, die wir in den frühen abstrakten Bildern um 1940 beobachten. Sie drückt sich nicht nur in der Komposition, sondern auch in der Palette aus, welche nun keine Umbra- und Dunkelviolettöne mehr kennt, sondern sich auf wenige Farben beschränkt: Cadmiumgelb, dunkles Ultramarinblau, Vert Emeraude, Cadmiumrot und ein Lila, das dem «caput mortuum» sehr nahe ist. Ueber seine Farben dieser Spätzeit sagt Urech, sie seien «das Ergebnis vom Malen sonniger Schneelandschaften».

 

Das Spätwerk – poetische Abstraktion

1946 durfte Urech-Seon zwei kleinere Gesamtausstellungen veranstalten, deren eine in Aarau dem Siebzigjährigen soweit Anerkennung brachte, dass man seine Ausdauer als Aussenseiter lobte, die andere in Zürich aber weit grössere Kreise ansprach. Urechs Bilder wurden in der Galerie des Eaux-Vives gezeigt. Die Ausstellung hatte die Einladung in die «Allianz» zur Folge. Ferner vermochte sie sogar einige, welchen die abstrakte Malerei nichts sagte, zu beeindrucken. So schreibt der Kunsthistoriker Peter Meyer (1894–1984), die Farbigkeit habe ihm einen sehr positiven Eindruck gemacht. Es sei ihm leid, dass, wie er höre, nicht viel verkauft worden sei; es sei ihm leid, dass, wie er höre, nicht viel verkauft worden sei; es sei ihm das ein Beweis, wie sehr der neuere Kunstbetrieb eine rein kommerzielle Angelegenheit geworden sei. Urechs Bilder seien ebenso gut wie die verschiedener ‹berühmter› Grössen.

Doch im Aargau kam die Besinnung erst 1956, als die jüngeren Künstler einen Vorstoss gegen die konservative Haltung der GSMBA gegenüber abstrakter Malerei unternahmen. Nun brüstete sich die Gesellschaft mit den bisher nur Geduldeten: Werner Christen (1912–1983), Peter Hächler (1922–1999, Erwin Rehmann (1921–2020) und Urech-Seon, die man ja nie aus der GSMBA rausgeworfen habe…

Urech-Seon selbst äusserte sich dazu nicht mehr. Seit etwa 1948 hatte er sich aus dem Aargauer Kulturleben zurückgezogen und nur noch mit der «Allianz» in Zürich (1947/1954) und St.Gallen (1947) ausgestellt. Bilder von ihm waren ausserdem 1948 und 1950 an den Pariser Salons der «Réalités nouvelles» zu sehen. Diese Salons waren aber von so vielen Malern beschickt worden, dass die Schweizer Sektion, an welcher vor allem die Mitglieder der «Allianz» beteiligt waren, nicht beachtet wurde. Die stille Zurückgezogenheit Urech-Seons in dieser letzten Phase intensiven Schaffens, die einen künstlerischen Höhepunkt im Lebenswerk darstellt, ist nicht als Resignation zu beurteilen. Vielmehr ist sie Folge der Anerkennung durch die Kollegen der «Allianz» sowie materieller und ideeller Unterstützung, die ihm durch seine beiden berufstätigen Töchter zukam. Die regelmässige Arbeit in Atelier hielt an bis drei Wochen vor seinem Tod. Dann liessen Urechs Kräfte rasch nach.

Urech-Seon starb ohne Sorge um sein fast ungeschmälert zurückgelassenes Oeuvre. Was er in seinem Notizblock festhielt, brauchte ihn selbst nicht zu treffen: «Die meisten Menschen sterben aus Langeweile, weil ihnen das Leben nichts mehr bietet, arme Seelen».

Der Text erschien in «Aargauer Almanach auf das Jahr 1975», Aarau 1974, Band I, S. 184–192