Drei Schlüsselwerke
im Aargauer Kunsthaus Aarau

Die Nacht
Nachdem Rudolf Urech-Seon seine frühen Arbeiten meist mit geografischen Angaben wie «Schärhügel» oder neutralen Bezeichnungen wie «Baumstämme» versieht, entstehen zwischen 1939 und 1945 Werke, welche weiterhin unmissverständliche, jedoch weniger konkrete Überschriften tragen wie «Triumph des Todes», Realpolitik, 1941, «Dämonen» oder Die Nacht, 1940.
Dieses zuletzt genannte Bild, welches 1992 in die Sammlung des Aargauer Kunsthauses gelangt, ist eines der ersten Beispiele einer etwa 25 Gemälde umfassenden Werkgruppe. Diese während des Krieges entstandenen Malereien sind ein Versuch Urech-Seons, die Grausamkeit des Krieges und die zerstörerische Gewalt der Macht künstlerisch zu verarbeiten und damit ins Bild zu fassen.
Die figurativen Werke zeigen surrealistisch anmutende Kreaturen – schreckliche Tausendfüssler, Maskeraden oder aggressive Vögel.
Das in Öl auf Leinwand gemalte Werk «Die Nacht» zählt dabei zu den inhaltlich komplexeren Bildern: Dominierend ist ein flächiger, rotbrauner Hintergrund, welcher Urech-Seon zwischen 1939 und 1945 wiederholt verwendet hat und als Symbol für das Nazi-Deutschland gedeutet werden kann. Während im Gemälde «Die Nacht» die Farbe als formfreier Code fungiert, sind zwei Gemälde in Privatbesitz verbürgt, welche die Gesichtskonturen Adolf Hitlers in demselben Braun und vor einem gelben Hintergrund zeigen. Betitelt sind diese mit Der Idiot, 1943 und Schwere Auseinandersetzung, 1945. Das Zentrum des Bildes «Die Nacht» wird von einer gelben Linie umschlungen, welche in ihrer Form an die sich im Nachlass des Malers befindende Malpalette erinnert. In der rechten, oberen Bildecke ist ein reduziertes Gesicht angedeutet: Schwarze Konturlinien bezeichnen Nase, Auge und Mund vor einem blauen Hintergrund. Ist hier etwa der Maler selbst skizziert, wie er einen Pinsel in die Palette tunkt? Das Zentrum der «Palette» erinnert überdies an ein menschliches Auge. Dieser Bildteil könnte somit als Weiterführung des Selbstporträts gelesen werden: Als Doppelporträt eines Malers, welcher sein Sehen und Fühlen durch Pinsel und Farben auf die Leinwand überträgt?
Als erster Künstler, welcher sich im Kanton Aargau der Abstraktion verschreibt, wird Urech-Seon bis zu seinem Tod 1959 nur von wenigen verstanden. Im konservativen Umfeld des Seetals – wo die meisten Personen eine figurative Malerei bevorzugen – steht Urech-Seon auch bezüglich dieser «Kriegsverarbeitung» alleine da. Im Sinne der «Geistigen Landesverteidigung» dominieren einfach lesbare, die Schweiz verherrlichende Werke und nicht dunkle, auf Innerlichkeit abzielende Kompositionen… (1)
Tropfenkomposition
Nachdem der 1876 in Seon (Kanton Aargau) geborene Rudolf Urech-Seon (1876–1959) sich seit 1895 besonders vom deutschen Impressionismus und Ferdinand Hodler (1853–1918) hat inspirieren lassen und in dieser Zeitspanne vor allem naturalistische Landschaften malt, konzentriert er sich im Laufe der 1920er-Jahre in seinen Kompositionen auf konstruktive Elemente wie Linie, Fläche und Rhythmus. Urech-Seon wird damit zum ersten Kunstschaffende überhaupt, welcher sich im Kanton Aargau der Abstraktion verschreibt. Seine Bilder führen in seiner Umgebung vor allem auf Unverständnis und der Maler bleibt zeitlebens ein Aussenseiter. Der Malerkollege Paul Eichenberger (1891–1984) – damals Präsident der regionalen Künstlervereinigung «GSAMBA» – schreibt Urech-Seon dazu in einem Brief: «Ich kann nicht recht verstehen, warum Sie immer auf diesem orts- und rassenfremden Pegasus herumreiten.»
Formal und inhaltlich bilden die Werke nach dem Krieg den Übergang zur freien Komposition, zu welcher Urech-Seon um 1948 gelangt. Das Gemälde Tropfencomposition, welches in diesem Jahr entsteht, gehört zu diesem Alterswerk, welches ein Höhepunkt des künstlerischen Schaffens des Künstlers bildet. Nach der Verarbeitung des Geschehenen während des Zweiten Weltkrieges und damit der Einführung von kürzelhaften Bildzeichen und surrealistisch anmutenden Figuren in seiner Bildsprache, entstehen ab 1945 Gemälde und Zeichnungen mit geometrischen, rund geschwungenen Formen und dies meist in leuchtendem Kolorit. Die in dieser Zeit entstandenen Bilder, so auch die «Tropfencomposition», sind meist reduziert auf fünf Farben: Cadmiumgelb, dunkles Ultramarinblau, Vert Emeraude, Cadmiumrot und ein Lila.
Im Werk «Tropfencomposition» verbindet der Künstler kompositionell seine in den1930er-Jahren entwickelte geometrische Formensprache mit organischen Formen der 1940er-Jahre. In den meisten Werken, welche ab 1945 entstehen, haben einzelne formale Elemente weiterhin einen konkreten Gegenstandsbezug, nur wenige Bilder sind gegenstandslos: Einzelne Formen erinnern an bereits früher, in naturalistischen Arbeiten benutzte Landschaftselemente. Oder Bildtitel interpretieren die Bildkompositionen; letzteres gilt auch für die «Tropfencomposition»: Das Bild zeigt flache, geschwungene Formen ohne Ecken und Kanten. Die Malerei entbehrt zwar räumlicher Tiefe, jedoch ist eine Leserichtung und eine gewisse Räumlichkeit festzumachen, ausgelöst durch die bewegt wirkenden roten «Tropfen» im Bildmittelgrund. Der zwar sehr deckende, jedoch äusserst sparsame Farbauftrag in dünnen Malschichten verstärkt wiederum den Eindruck zweidimensionaler Flächigkeit; die Dreidimensionalität der runden Formen entsteht nur im Kopf des Betrachters und ist weder durch Konturen noch Schatten angedeutet.
Mit den Worten Urech-Seons ausgedrückt muss ein Motiv «in Linien und Formen etwas sagen, […] dazu kommen Rhythmen, Systeme, Strukturen und Bewegung. Was die meisten Maler in der Natur sehen, liess ich liegen und suchte neue Schönheiten und fand sie auch». (2)
Composition Nr. 9
Das Gemälde Composition Nr. 9 entsteht 1955, vier Jahre vor dem Tod des damals bereits 79-jährigen Künstlers Rudolf Urech-Seon (1876–1959). Mit Öl auf Leinwand gemalt, ist das Bild gekennzeichnet durch die kompositionelle Verbindung der ab den 1930er-Jahren entwickelten geometrischen Formensprache Urech-Seons und freieren, organischen Elementen, welche ab den 1940er-Jahren in das Werk des Künstlers Einzug halten. Die Komposition des Gemäldes basiert auf zwei übereinander gestürzten, teilweise nur angedeuteten Dreiecken. Im Unterschied zu Darstellungen zwischen 1930 und 1945 umschliesst das nach oben weisende Dreieck und der zentral im oberen Drittel platzierte Kreis in der vorliegenden Komposition nicht mehr konkrete Landschaftselemente, sondern werden als autonome Bildelemente eingesetzt.
Der Viertelkreis im rechten Bildmittelgrund scheint die Gesamtkomposition zu stabilisieren und das blaue Dreieck weiterzuführen. Das nach unten weisende, gelbe Dreieck wird gebrochen von einer geschwungenen Linie, welche an eine Gesichtssilhouette erinnert. Auffällig ist auch die Signatur, welche prominent in die Mitte am unteren Rand platziert ist. Zeitlebens von anderen Kunstschaffenden und Kritikern meist als «zu modern» getadelt, löst der Künstler seine vorher futuristische Ligatur zum Signieren der Bilder ab den 1930er-Jahren provokativ durch eine Unterschrift in der «veralteten» Sütterlin-Schrift ab. Um sich vom gleichnamigen Grafiker Rudolf Urech (1888–1951) abzuheben, fügt er seinem Namen zudem bereits ab 1916 den Zusatz «-Seon» hinzu.
Die späten 1940er-Jahre bringen trotz vorherrschender Negativkritik eine gewisse Anerkennung. Urech-Seon findet 1947 Aufnahme bei den «Zürcher Konkreten» (Künstlergruppierung «Allianz»), mit welchen er gelegentlich auch ausstellen darf. Prominente Vertreter der Allianz- Camille Graeser (1892–1980), Richard Paul Lohse (1902–1988) oder Max Bill (1908–1994) – sind jedoch alle eine Generation jünger. Im Gegensatz zu vielen «Konkreten» zieht Urech-Seon stets alle Linien von Hand (ohne Hilfsmittel wie eine Schablone), die Flächen sind mit dem Spachtel egalisiert und wirken daher vibrierend transparent. Der Künstler schreibt dazu: «Die geometrischen Formen sind dem Leben entnommen. Im Leben ist alles abgerundet, es gibt keine ganz scharfen Ecken, Kanten; der Hocharistokrat muss auch mit dem Arbeiter verkehren, entweder durch Beamte oder durch sonstige Mittelstandspersonen.»
Die erwähnte Kompositionsstruktur, welche auf zwei Dreiecken basiert, nachvollziehen zu können, bietet sich ein Blick auf die frühe Schaffenszeit des Künstlers an: Während dem Studium an der Münchner Kunstakademie (1913–1916) kommt der Maler erstmals mit mathematischen Konstruktionsverfahren in Berührung. Sein Lehrer, Hermann Groeber (1865–1935), lehrt seine Studierenden den «Villard’schen Teilungskanon», ein frühgotisches Schema zur geometrisch exakten – in Form, Proportion und Ästhetik ausgewogenen – Teilung von rechteckigen Flächen. Zurück in der Schweiz, beginnt Urech-Seon, dieses Proportionsverfahren in seinen naturalistischen Landschaftsmalereien anzuwenden und erweitert das Konstruktionsprinzip um zwei Diagonalen, welche von den oberen Ecken zur Mitte führen. Dieses Konstruktionsprinzip, welches ab den 1930er-Jahren einen wichtigen Platz in Urech-Seons Schaffen einnimmt, wird von ihm, wie auch «Composition No. 9» zeigt, nicht immer mit derselben Strenge angewendet. (3)
- Rudolf Urech-Seon, Die Nacht, Auszug aus dem Online-Katalog des Kunsthauses Aarau mit Genehmigung des Autors und des Kunsthauses.
- Rudolf Urech-Seon, Tropfenkomposition, Text aus dem Online-Katalog des Kunsthauses Aarau mit Genehmigung des Autors und des Kunsthauses.
- Rudolf Urech-Seon, Composition Nr. 9, Text aus dem Online-Katalog des Kunsthauses Aarau mit Genehmigung des Autors und des Kunsthauses.